“Die Folgen des Atomausstiegs – wie funktioniert der Abbau und die Entsorgung einer Atomanlage?“
Beitrag von Holger Laschka, Schweinfurter Tagblatt, 24. November 2011
Der Vorsitzenden der Bürgeraktion Dr. Peter Möhringer begrüßt die Gäste zum diejährigen Infoabend in den Gaden in Geldersheim.
Hartmut Haas-Hyronimus zeigt mittels eines Geiger-Müller-Zählers radiaktiven Zerfall und erläutert wie schwierig ist, daraus die Wirkung auf Menschen abzuleiten.
GRAFENRHEINFELD/GELDERSHEIM
Wohin mit dem strahlenden Schutt?
Hartmut Haas-Hyronimus erläutert Problematiken beim Rückbau eines Kernkraftwerks
Man könnte ja annehmen, Atomkraftgegner wünschten sich nichts sehnlicher, als den möglichst schnellen Rückbau der monströsen Anlagen nach deren Stilllegung. Doch dem ist nicht so.
„Solange wir nicht über ausreichend Lagerkapazitäten für das kontaminierte Material verfügen“, sagt Hartmut Haas-Hyronimus von der Aschaffenburger Kreisgruppe des Bund Naturschutz Bayern (BN), „sollten wir den sicheren Einschluss dem Rückbau vorziehen.“
Freunde macht man sich mit einer solchen These nicht im Lager der Anti-Atom-Aktivisten; zumal, wenn man sein Thesen-Referat „Vom Atomkraftwerk zur grünen Wiese“ in Geldersheim hält, beinahe in Sichtweite des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld (KKG), das laut Ausstiegsszenario der Bundesregierung nun Ende 2015 vom Netz gehen soll. Nicht nur die CSU im Landkreis träumt da schon vom schnellen Rückbau und eben jener grünen Wiese, auch die Kraftwerksgegner, die so viele Jahre gegen den Koloss angekämpft haben, möchten diesen als sichtbares Zeichen ihres Triumphs gerne von der Bildfläche verschwinden lassen.
Dass ein Kraftwerksrückbau kein einfaches Unterfangen ist, kann man sich vorstellen. Am Beispiel des Forschungsreaktors Kahl bei Aschaffenburg schildert Haas-Hyronimus, welche Problematiken auftauchen. Die Anlage in Kahl war von 1961 bis 1981 in Betrieb, der 16-Megawatt-Reaktor versorgte Aschaffenburg mit Strom; Grafenrheinfeld liefert seit 1982 Strom für Bayern und leistet 1,345 Gigawatt. Soviel zu den Relationen. Und doch werden viele Arbeitsschritte beim Rückbau ähnlich sein, insbesondere wenn es um die Beseitigung des Kernbereichs mit der Reaktorgrube geht.
RWE-NUKEM hat diesen in Kahl ab 2001 demontiert und entsorgt, die Maßnahme wurde in einem Werbefilm dokumentiert und wirkt dort gelungen. „In der Realität gab es viele Probleme“, weiß Haas-Hyronimus und berichtet, wie hoch radioaktive Betonteile im Sandstrahlverfahren abgefräst und teilweise händisch zersägt werden mussten. Die Arbeiter seien dabei hohes Risiko gegangen – im Film wird die allermeiste Arbeit von einem ferngesteuerten Mini-Bagger erledigt.
Doch dieses Verfahren ist noch nicht das zentrale Problem des Rückbaus. Viel mehr Sorgen bereitet den Anti-Atom-Aktivisten der Umgang mit dem strahlenbelasteten Material. Von insgesamt 33 000 Tonnen Bauschutt in Kahl wurden die Brennstäbe selbst nach Schweden zur Endlagerung verbracht, anderes stark strahlendes Material aus dem Reaktorkern zu einem Entsorger in Krefeld. Rund 1000 Kubikmeter befinden sich in einem Zwischenlager in Mitterteich. Und der Rest?
„Alles, was weniger als fünf Becquerel Strahlenaktivität aufweist, gilt als ‚freigemessen‘ und kann beliebig weiter verarbeitet werden“, sagt Haas-Hyronimus. Das Material finde sich im Straßen- und Wegebau, in Baugruben und Fundamenten, „theoretisch können auch Kindergärten damit errichtet worden sein.“
Der Referent fischt ein Uranglassteinchen aus der Tasche und entschuldigt sich, dass er die etwa 50 Anwesenden „einer geringen Menge Strahlung“ aussetzt. Er hat einen Geigerzähler dabei. Der Messwert bleibt deutlich unter fünf Becquerel.
Natürlich wäre eine Verwendung dieses strahlenden Materials beim Kindergarten- oder Schulenbau undenkbar. Auch gegen Uranglaswege in Wohnvierteln würden sich die Menschen vermutlich vehement wehren. Ob allerdings ähnlich oder sogar mehr strahlendes Material aus Kahl in Hoch- und Tiefbauten des Landkreises Aschaffenburg Verwendung fand, ließe sich heute gar nicht mehr rekonstruieren.
„Kein Mensch weiß, wo über 30 000 Tonnen Bauschutt des ehemaligen Atomkraftwerks hingekommen sind“, ist Hartmut Haas-Hyronimus entsetzt. Eine diesbezügliche Anfrage an das zuständige Landratsamt förderte zutage, dass es zwar sogenannte „Wiegescheine“ für ausgeliefertes Material gibt, sich die Spur des Bauschutts danach aber verliert.
„An der A3 wurde bekanntlich viel gebaut“, orakelt der Referent, „wer hier schneller mit dem Auto drüber fährt, bekommt weniger Strahlung ab…“
Ratlosigkeit macht sich breit im Auditorium. Wenn schon der Rückbau des kleinen Kahl so viele Probleme aufwirft – was wird dann aus dem großen Grafenrheinfeld? Dort ging es um 33 000 Tonnen Bauschutt, hier um 156 000 Tonnen. Zwei bis drei Prozent, also 3000 bis 4600 Tonnen davon strahlen so stark, dass sie einer sicheren Endlagerung zugeführt werden müssten.
Knapp 10 000 Tonnen liegen vermutlich nach der „Behandlung“ mit mechanischen Methoden knapp unter der Fünf-Becquerel-Marke, würden also „zur schadlosen Verwertung“ frei gegeben und fielen damit nicht mehr unter die Atomaufsicht. Der Rest – insbesondere der Beton der Kühltürme – könnte überall landen.
In Deutschland wurden schon mehrere Kernkraftwerke rückgebaut. 135 Millionen Euro kostete die Liquidierung des Reaktors in Niederaichbach, der nur 18 Tage unter Volllast lief. Auch hier fragen sich die Menschen, wo der Bauschutt gelandet ist. 800 Millionen oder gar eine Milliarde Euro müssen wohl für Isar I veranschlagt werden. Ein vergleichbarer Betrag für Grafenrheinfeld. Die Endlagerproblematik ist nicht gelöst. Die Freimessung des Materials gemäß Bundesstrahlenschutzverordnung ist zumindest umstritten. Die Abbrucharbeiten sind schwierig und nicht ungefährlich. Und auch für die „grüne Wiese“ danach gibt es nicht unbedingt Verwendung.
„Bislang hat noch niemand an dem ehemaligen Kraftwerksgelände in Kahl Interesse bekundet“, sagt Hartmut Haas-Hyronimus fast sibyllinisch. Er zeigt einen Film des Bayerischen Fernsehens, in dem sein Geigerzähler vorkommt. Gemessen wird das Erdreich – dort, wo einst der Reaktor stand. Es strahlt nicht mehr als der unbelastete Boden irgendwo sonst in Deutschland. Das „radioaktive Inventar“ ist aber nicht weg. Es wurde nur verstreut.
Beitrag von Holger Laschka, Schweinfurter Tagblatt, 24. Nov. 2011